Durch Digitalisierung Wissensräume
gestalten

Digitalisierungsexpertin Marina Weisband im Gespräch mit Helle Timmermann.

Fotos: Markus C. Hurek

„Das Haus des Wissens ist ein aktiver Gegenpol zu Facebook.“

Helle Timmermann leitet seit drei Jahren die VHS Bochum mit einem Team von rund 40 Personen und 450 Kursleiterinnen und -leitern. Die VHS Bochum wird neben der Stadtbücherei einer der Hauptakteure im Haus des Wissens sein.

Helle Timmermann: Warum braucht die Digitalisierung
überhaupt einen physischen Ort?

Marina Weisband: Wir als Menschheit kommen aus der Industriegesellschaft hinein in die Informationsgesellschaft. Und in der Informationsgesellschaft ist das Entscheidende nicht mehr: Was produziere ich und wem gehören die Maschinen, die es produzieren, sondern: Was weiß ich? Was denke ich? Wem gehören die Algorithmen, Programme und andere immaterielle Güter? 

Eine der wichtigsten Fragen aber bleibt: Wie arbeiten Menschen zusammen? Denn das Zusammenarbeiten von Menschen sowie das Pflegen und das Erziehen sind die Dinge, die Maschinen uns nicht abnehmen können. Das heißt, wir kommen in eine Zeit, in der der Austausch von Ideen, kreative Prozesse, soziales Miteinander und Solidarität ins Zentrum eines lebenswerten Lebens rücken. Und Orte sind gerade für diese Dinge wahnsinnig wichtig.

Das Begehen eines Ortes erfolgt mit einer definierten Intention. Körper und Geist stellen sich räumlich und zeitlich darauf ein und trennen meine Absicht, z. B. Lernen, vom Alltag. Im Alltag kann ich eine Haltung oder Einstellung haben, wenn ich dazu aber einen Ort aufsuche, sei es in der Realität oder auf einem Holodeck, öffne ich mich ganz anders für das, was an diesem Ort passieren soll.

Marina Weisband, geboren 1987 in der Ukraine, ist Diplompsychologin und Expertin für digitale Partizipation und Bildung. 

In ihrem Buch „Wir nennen es Politik“ (2013 im Tropen-Verlag erschienen) schildert sie für Politik-Neueinsteigerinnen und -Neueinsteiger die Möglichkeiten neuer demokratischer Formen durch Nutzung des Internets.

Seit 2014 leitet sie bei politik-digital e. V. das Projekt aula – ein Konzept zur politischen Bildung und liquid-demokratischen Beteiligung von Jugendlichen an den Regeln und Angelegenheiten ihrer Schulen und außerschulischen Organisationen (www.aula.de) – und ist Co-Vorsitzende bei D64 e. V., dem Zentrum für digitalen Fortschritt.

HT: Wie kann die Vermeidung digitaler Spaltung zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen gelingen?

MW: Genau dafür braucht es Räume, in denen Menschen sich begegnen und anstecken mit dem Geist der Neugier, des Schaffens und dem Geist gegenseitiger Hilfe. Vor allem, weil Menschen in dieses Zeitalter der Information auf sehr verschiedenen Niveaus einsteigen. Viele Menschen haben eine gewisse Angst, in der digitalen Welt nicht zurechtzukommen, keine Kontrolle zu haben und möglicherweise abgehängt zu werden. Dagegen hilft, wenn diejenigen Leute, die das spannend und cool finden, die Leute, die das mit Argwohn betrachten, an diesen Orten mitnehmen können, und zwar auf ganz persönlicher Ebene, mit körperlicher Präsenz, wo Neugier und Lust an einer Sache ansteckend wirken können. 

Das Wichtige ist, in diesen Räumen Augenhöhe herzustellen, denn Wissensvermittlung kann niemals ein einseitiger Prozess sein. Während die digital kompetentere Seite Informationen und Wissen schneller beschaffen kann, liegt die Stärke der anderen Seite oft in der Einordnung, Aufmerksamkeitssteuerung und Quellenkritik, ohne diesen Austausch können beide Seiten im Grunde niemals eine vollständige Information über die Welt erhalten.

Der Service einer Kommune, so einen Ort zu schaffen, hat in der heutigen Zeit einen unschätzbaren Wert und ist die absolute Grundlage für die Zukunft einer gesunden Demokratie.

HT: Müssten wir dann das Haus des Wissens nicht eigentlich Haus des Nichtwissens nennen?

MW: Nein. Das Haus ist ja zum Wissensaustausch da. Das Wissen ist hier tatsächlich zu Hause, insofern, als dass es sich häuslich entfalten kann, als dass es sich wohlfühlen kann und von allen gesucht wird. Es ist etwas, das angestrebt wird und niemals vollständig da ist.

Natürlich geht es nicht nur darum, hier Wissen zu finden, sondern auch darum, zu lernen, wie man mit Nichtwissen umgeht, wie man seinen eigenen Horizont erweitern und sein Wissen vermitteln kann. Jeder kann die Mittel des Hauses nutzen, um selbst wirksam seine Kompetenzen innerhalb der analogen und digitalen Kommune weiterzugeben, sei es beim Videodreh, bei der Gesundheitsprävention, bei der Gedichtinterpretation oder in der KI.

HT: Wie könnten die physischen Manifestationen der Selbstwirksamkeit im Haus des Wissens aussehen?

MW: Selbstwirksamkeit entsteht durch direkte Erfahrungen und Handlungen mit konkreten Auswirkungen. Durch digitale Partizipation an Entscheidungen können die Bürgerinnen und Bürger das Haus des Wissens aktiv mitgestalten. Insofern ist es eine physische Manifestation der Selbstwirksamkeit, jeden Tag sichtbar, anfassbar und erlebbar und ständig wieder neu den Bedürfnissen angepasst.

HT: Wie hilft uns dabei die Digitalisierung?

MW: Digitalisierung kann helfen, den Werte- und Normenshift von der Industriegesellschaft in die Informationsgesellschaft zu überbrücken. Für viele Menschen gelten auf einmal die gelernten Normen nicht mehr und die Einordnung vieler Informationen fällt schwer. Digital zugängliches Wissen kann helfen, sich diese Dinge im eigenen Tempo und Rhythmus anzueignen und Gruppen auf derselben Ebene zu finden, völlig unabhängig vom eigenen Hintergrund.

HT: Welche gesellschaftlichen Funktionen kann die
Digitalisierung einnehmen?

MW: Digitalisierung macht uns weder sozialer noch asozialer. Sie macht uns weder demokratischer noch weniger demokratisch. Digitalisierung ist der große Verstärker. Sie verstärkt die Tendenzen, die in einer Gesellschaft gegeben sind. Das heißt, wenn wir durch Digitalisierung Räume schaffen, die auf Wissen, auf Neugier, auf Kooperation ausgelegt sind, dann werden die digitalen Elemente dieses verstärken. Wenn wir soziale Plattformen bauen, die darauf ausgelegt sind, Nutzerdaten für Werbung zu verkaufen und deshalb möglichst radikale Inhalte pushen, werden leider auch diese verstärkt.

Das Haus des Wissens ist ein aktiver Gegenpol zu Facebook, weil es die Digitalisierung als Verstärker für das Gute, für das Soziale und das Miteinander nutzt. Angefangen auf der ganz banalen Werkzeugebene können die Benutzerinnen und Benutzer Prozesse gestalten, koordinieren und niedrigschwellig Materialien erstellen, Jugendliche können YouTube-Videos drehen über das, was sie bewegt. Es sollte viel darum gehen, anderen Leuten etwas näherzubringen, sei es Hip-Hop, sei es Programmieren.

HT: Was bedeutet eine „Kultur der Digitalität“?

MW: Im Gegensatz zur Buchdruckkultur ist Digitalität nicht monolithisch. Das Endprodukt ist niemals fertig, sondern ein ewiger Prozess von Reaktionen und Gegenreaktionen. Digitalität führt automatisch zu einer neuen Fehlerkultur, einer neuen Kultur der Autorität und Zusammenarbeit und der Bereitschaft, Wissen wachsen zu lassen, unabhängig von Titeln und Ausbildungen. Das alte Verständnis von Professionalität sollte radikal verlernt werden. Es ist immer ein Prozess, ein Hin und Her, ein gemeinsames Erkunden, wie ein Gespräch. Sowohl in der Lebens- als auch in der Arbeitswelt ist lebenslanges Lernen in der heutigen Zeit unabdingbar, und dafür sollte das Haus des Wissens den idealen Ort bieten.

HT: Wie sollte die Digitalisierung im Haus des Wissens eingesetzt werden?

MW: Die Digitalisierung im Haus des Wissens ist eigentlich, nach dem Prinzip des Verstärkers, eine wahnsinnige Verantwortung. Es muss darauf vertraut werden, dass zunächst einmal die richtige Basis gestaltet wird, damit diese verstärkt werden kann. Man muss die Digitalisierung in die richtige Richtung gestalten.

Ich sehe die Grundgedanken, die verstärkt werden, schon im momentanen Planungsstadium. Das Haus des Wissens als öffentliches Haus wird etwas, das Gemeinschaft verstärkt, das gegenseitige Hilfe verstärkt, das Augenhöhe und Kreativität alleine dadurch verstärkt, dass die Räume so angelegt werden, dass sie sich den Bedürfnissen ihrer Benutzerinnen und Benutzer fügen. Räumlich funktioniert dies durch fluide Architektur mit beweglichen Elementen, Open Spaces und variablen Nutzungsmöglichkeiten, inhaltlich kann dies über digitale Beteiligung gelingen. Eine wichtige Frage ist auch: Wie gestaltet man die digitalen Räume so, dass die Menschen, die sich darin bewegen, auch wirklich souverän und geschützt sind?

Digitalisierung ist eine Erweiterung des menschlichen Geistes, die Teilhabe ermöglichen kann und damit auch hochgradig inklusiv ist. Die Technik erlaubt die Produktion eigener Inhalte und die Teilnahme an virtuellen und hybriden Veranstaltungen, Arztterminen oder Elterngesprächen unabhängig von Sprachkenntnissen und körperlichen Voraussetzungen; die Teilhabe am Leben.

HT: Wie viele Regeln dürfen oder müssen wir der
Digitalisierung eigentlich auferlegen?

MW: Das Haus sollte so weit wie möglich seinen Nutzerinnen und Nutzern gehören, die im besten Fall auch die Regeln machen sollten. Allein schon aus dem Grund, dass diese dann viel besser nachvollziehbar und durchsetzbar sind. Denn, wenn man den ganzen Weg mitgegangen ist, Regeln zu erschaffen, ist man nicht mehr nur Gast in einem Raum.

Ich glaube, Digitalisierung braucht wie jeder Aspekt menschlichen Zusammenlebens Regeln. Ich glaube, dass einige der gefährlichsten Elemente, die wir zurzeit in unseren digitalen Räumen haben, genau der Tatsache geschuldet sind, dass diese Regulierungen in den 90er Jahren nie geschaffen wurden.

Durch die Offenheit des Hauses muss auch die Hardware in den Räumen geschützt werden. Wenn Dinge zerstört werden und nicht mehr benutzbar sind, schränkt dies die Menschen wiederum in ihren Rechten ein. Auf einer basalen Ebene brauchen wir dafür als Gesellschaft Regeln, ähnlich einer Grundverfassung, die Freiheiten erst ermöglicht. Einige Regeln müssen auch agil sein, weil ihre Notwendigkeit erst im Laufe der Zeit klar wird. Diese Verfassung sollte eine Intoleranz gegen Intoleranz beinhalten.

HT: Wird das Haus des Wissens jemals fertig werden?

MW: Erst jetzt wird mir tatsächlich klar, dass das unfertige Haus nicht nur das unfertige Gebäude ist, sondern dass sich dieses „Unfertigsein“ auf alles bezieht, auch auf die Kultur der Digitalität. Und vielleicht ist es auch nur dann richtig erfolgreich.

Das Haus wird immer unfertig bleiben, weil genau das den Gestaltungsspielraum ermöglicht, den Wachstumsspielraum, die Weiterentwicklungsmöglichkeit. Und es reflektiert die unfertigen Menschen, die darin verkehren, die auch immer unfertig bleiben werden, bis zu dem Tag, an dem sie sterben. Und sie wiederum reflektieren die unfertige Gesellschaft, in der wir leben, die eben keine festen, ewig geltenden Werte und Normen hat. Und genau das ist ja auch die Schönheit daran, dass wir immer auf dieser Reise sein werden und dabei immer mehr für uns mitnehmen können.

Ein Ort
mit Strahlkraft.